Arbeiten unter dem Wissenschaftszeitvertragsgesetz : Eine Evaluation von Befristungsrecht und -realität an deutschen Universitäten

Author:

Kuhnt Mathias,Reitz Tilman,Wöhrle Patrick

Abstract

Wissenschaftlich Beschäftigte ohne Professur sind vielerorts nicht gut gestellt. In Deutschland kommen zwei Besonderheiten hinzu: Der Anteil befristet beschäftigter Wissenschaftler*innen liegt hier deutlich höher als in anderen Hochschulsystemen, und ihre Stellung wird seit dem Jahr 2007 durch ein eigenes Sonderbefristungsrecht festgeschrieben – das Wissenschaftszeitvertragsgesetz. Das Gesetz wurde nach seiner Einführung evaluiert und u. a. angesichts der Ergebnisse 2016 novelliert; eine weitere Evaluierung ist gesetzlich vorgesehen und für dieses Jahr angekündigt. Die Debatte zur Lage befristet beschäftigten wissenschaftlichen Personals, besonders im sogenannten Nachwuchs, geht jedoch so weit über die amtlich beauftragten Evaluationen hinaus, dass es nötig scheint, das Gesetz unabhängig von den Fragestellungen des zuständigen Ministeriums zu evaluieren. Diese Arbeit legen wir hier vor. In unserer Studie werden Kernargumente zum WissZeitVG und zur in ihm kodifizierten Praxis mit einer detaillierten Befragung der Betroffenen genauer nachvollzogen und überprüfbar gemacht. In einer breit angelegten Online-Befragung haben wir wissenschaftliche Beschäftigte an 23 Universitäten erreicht; 4620 von ihnen haben den Fragebogen auswertbar ausgefüllt. Unsere Analyse zielt auf vier grundlegende Aspekte, die das Sonderbefristungsrecht in der Wissenschaft insgesamt zu beurteilen ermöglichen: 1. Welche Beschäftigungslagen, Qualifikations- und Karriereverläufe werden durch das WissZeitVG typischerweise hergestellt oder unterstützt? 2. Wie wirken sich diese Bedingungen auf Arbeits- und Lebensqualität der Beschäftigten aus? 3. Welche wissenschaftlichen (und nichtwissenschaftlichen) Tätigkeiten und Haltungen werden durch das WissZeitVG befördert? 4. Wie beurteilen die Betroffenen den gesetzlichen Rahmen ihrer Tätigkeit? Mit dieser relativ umfassenden Perspektive heben wir uns von Studien ab, die spezifischer untersucht haben, inwiefern das WissZeitVG Befristungen in der Wissenschaft praktikabel macht und inwieweit seine Novellierung die üblichen Vertragslaufzeiten verlängert hat. Stattdessen ermöglicht unsere Analyse die Grundsatzfrage zu stellen, ob ein Sonderbefristungsrecht in der Wissenschaft überhaupt zu rechtfertigen ist. Folgende Ergebnisse sind besonders hervorzuheben: 1. Unsere Studie bestätigt und vertieft den bekannten Befund, dass das WissZeitVG für das nichtprofessorale wissenschaftliche Personal atypische Beschäftigung zur Norm macht. Sie lässt sich bei weitem nicht nur in den verbreiteten, bei uns zumindest umrisshaft erfassten außertariflichen Arbeitsverhältnissen feststellen. Unter den Befragten herrschen befristete Arbeitsverträge vor (mit 82 %, ähnlich wie in der amtlichen Statistik), und die mittleren Vertragslaufzeiten sind relativ kurz – 23 Monate, mit einem Median von 17 Monaten. Laufzeiten von zwölf Monaten und weniger bilden weiterhin keine Seltenheit. Kettenverträge müssen sogar als Normalfall gelten; im Lauf der vom WissZeitVG gewährten Zwölfjahresfrist sammeln die Befragten durchschnittlich acht Verträge an, bereits nach drei bis sechs Jahren sind es durchschnittlich vier Verträge, oft an derselben Hochschule. Hinzu kommt ein hoher Anteil von Teilzeit-Arbeitsverhältnissen (37 %), die in mindestens der Hälfte der Fälle nicht auf einem Teilzeitwunsch der Beschäftigten beruhen. Beschäftigte auf diesen Stellen arbeiten auch besonders viel mehr als vertraglich vereinbart (im Durchschnitt 13 Stunden pro Woche); bei allen befragten Gruppen stellt Mehrarbeit die Regel dar. 2. Trotz der vielen Arbeit ist festzustellen, dass die Befristung den Qualifikationserwerb oft nicht befördert, sondern erschwert. Ein wichtiger Faktor sind die Vertragsdauern. Sie liegen bei Promovierenden zumeist weit unter der durchschnittlichen Gesamtdauer einer Promotion, bei 39 % dieser Gruppe sogar bei zwei Jahren und weniger. Fast die Hälfte der Befragten, deren Qualifikationsziel ein formaler Abschluss ist, berichtet, dass die Vertragslaufzeit für ihn nicht ausreichen wird. Unter den offiziell zur Habilitation Eingestellten ist dies sogar bei mehr als der Hälfte der Fall, und 23 % von ihnen berichten, faktisch keine Habilitation anzustreben. Der Befund, dass die steil gestiegene Anzahl von Qualifizierungsbeschäftigungen fast keinen Zuwachs wirklicher Qualifikationen hervorbringt (vgl. Gassmann 2020, 44 – ​46), lässt sich damit deutlich besser erklären. 3. Sachlich hängen die Defizite faktischer Qualifikationstätigkeit auch damit zusammen, dass andere, teilweise wissenschaftsfremde Tätigkeiten großen Raum einnehmen. Bei den häufig ausgeübten Arbeiten folgt auf Forschung und Lehre unmittelbar die Angabe ›Verwaltung‹ (während die ›akademische Selbstverwaltung‹ eine geringere Rolle spielt), auch Aufbau und Pflege von Netzwerken, Projektanträge und -berichte sind breit vertreten. Ohne Befristung würden die Befragten die meisten dieser Tätigkeiten in geringerem Umfang ausüben, und viele geben an, dass sie für ihre Vorgesetzen Aufgaben erfüllen, für die ihrer Ansicht nach keine vertragliche Grundlage besteht. Für solche Aufgaben (neben Verwaltung und Organisation etwa technische Dienstleistungen oder Zuarbeit zu Lehre und Publikationen) wenden 15 % der Befragten mit Vorgesetzten bis zu drei Stunden, insgesamt 13 % sogar vier bis zwölf Stunden wöchentlich auf. Die Zeit für Qualifizierung schrumpft damit, und 9 % der Promovierenden und Habilitierenden sowie 17 % mit anderem Qualifizierungsziel gaben an, dass ihre faktische Tätigkeit nichts mit dem offiziellen Ziel zu tun hat. 4. Die umrissene Beschäftigungslage beeinträchtigt die Arbeits- und Lebensqualität des wissenschaftlichen Personals. Die kurzen Vertragslaufzeiten, die schlechten Aussichten auf eine Professur und der ›Druck, sich um Anschlussprojekte zu kümmern‹, werden von den befristet Beschäftigten mehrheitlich als ›störend‹ oder ›sehr störend‹ eingeschätzt; ein großer Teil von ihnen (29 %) empfindet so auch die ›Abhängigkeit von Vorgesetzten‹. Auch beim Personal mit unbefristetem Arbeitsvertrag ist in diesen Punkten Unzufriedenheit verbreitet, die Werte sind hier allerdings jeweils merklich geringer. In der Sicht der allermeisten Befragten lassen sich die Befristungen zudem schlecht mit Freundschaften, Partnerschaft und Kinderbetreuung vereinbaren. Für die Zeit nach der Promotion schreiben ihnen über 90 % einen negativen Einfluss auf das Privatleben zu. Das ist auch handlungsrelevant. Mehr als ein Drittel der Befragten hat bereits einmal aufgrund der Beschäftigungslage einen Kinderwunsch zurückgestellt, bei den Beschäftigten mit Kindern hat eine Mehrheit häufig oder sehr häufig Betreuungsschwierigkeiten, und 19 % berichten, dass während ihrer Elternzeit bereits einmal ein Arbeitsverhältnis ausgelaufen ist. 5. Das WissZeitVG beeinträchtigt darüber hinaus die Qualität wissenschaftlicher Praxis. Das lässt sich nicht allein am berichteten Ausmaß wissenschaftsfremder Tätigkeiten ablesen, sondern auch daran, welchen Faktoren die Befragten Bedeutung für ihr berufliches Fortkommen zumessen: Am häufigsten wurden hier Netzwerke und Kontakte genannt, neben Publikationen spielten auch Konferenzteilnahmen und das Einwerben von Projektgeldern eine sehr wichtige Rolle. Zugleich bedroht die fortgesetzte Unsicherheit und Abhängigkeit den Kern wissenschaftlicher Kommunikation. Auf die Frage, ob sie sich fallweise mit wissenschaftlicher Kritik zurückhalten, um ihre Stellung nicht zu gefährden, antworteten die befristet Beschäftigten zu insgesamt 40 % mit ›teilweise‹, ›häufig‹ oder sogar ›immer‹ – während bei den unbefristet Beschäftigten nur 24 % diese Antworten gaben. Persönliches und wissenschaftliches Fehlverhalten wird unter den bestehenden Bedingungen oft nicht gemeldet (35 % der Befragten haben dies schon einmal unterlassen); hier lässt sich allerdings keine starke Korrelation zur Befristung erkennen. 6. Angesichts dieser Erfahrungen verwundert es nicht, dass die Befragten das WissZeitVG und die durch es ermöglichte Praxis mehrheitlich ablehnen. Oft behauptete positive Effekte befristeter Beschäftigungsverhältnisse werden (besonders für die Zeit nach der Promotion) überwiegend bestritten. Anders als die Kanzler der deutschen Hochschulen sind die Befragten mehrheitlich nicht der Ansicht, dass diese Verhältnisse die ›erforderliche personalpolitische Flexibilität‹ schaffen, die ›Produktivität wissenschaftlichen Arbeitens‹ steigern oder die ›Innovationskraft der Wissenschaft‹ erhöhen. Verbesserungen würden für die meisten Befragten daher deutliche Korrekturen erfordern. Für viele wäre es hilfreich, wenn Qualifikationsziele genauer bestimmt oder Befristungsdauern verlängert würden. Mit besonders großer Mehrheit bejahen sie schließlich zwei grundlegende Änderungen: 76 % wären für eine ›Abschaffung des Sonderbefristungsrechts in der Wissenschaft‹ und 86 % dafür, eine unbefristete Beschäftigung ab der Promotion zur Regel zu machen. Für die Novelle bzw. Ersetzung des WissZeitVG liegen damit klare Kriterien vor.

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Technische Universität Dresden

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