Abstract
Der Beitrag nähert sich der Rolle der Pädagogischen Psychologie im Schulwesen der DDR aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive. Dazu untersucht er die Einbindung von Psycholog:innen in Pädagogische Kreiskabinette ab 1974 anhand von Verwaltungsschriftgut des Ministeriums für Volksbildung. Das Ministerium schuf die neuen Stellen und versah die Pädagogische Psychologie mit dem Auftrag, pädagogische Prozesse zu verbessern und junge Menschen ideologisch zu prägen. Anhaltende Besetzungsschwierigkeiten werden auf die Drosselung der Studierendenzahlen im Kontext der dritten Hochschulreform sowie die Abwanderung von Absolvent:innen in den klinischen Bereich zurückgeführt. Ein verkürztes und spezialisiertes Psychologie-Studium für Pädagog:innen sollte dem so entstandenen Personalmangel entgegenwirken. Die Absolvent:innen erlernten und internalisierten Praktiken, wie die Anwendung psychodiagnostischer Verfahren und Erziehungsberatungsgespräche, die für ihr professionelles Handeln konstitutiv werden sollten. Bedingt durch ein anfängliches ministerielles Anleitungsvakuum, griffen Psycholog:innen auf diesen Praxiskomplex zur Bewältigung alltäglicher Herausforderungen in den Pädagogischen Kreiskabinetten zurück. Auch wenn dies nicht notwendigerweise eine politisch-ideologische Opposition darstellen musste, entstand ein Rationalitätenkonflikt mit dem sich formierenden ministeriellen Anforderungsprofil, das die Weiterbildung von Pädagog:innen priorisierte. Intensivierte ministerielle Steuerungsversuche trafen auf die Eigenlogik psychologischer Praxis und mündeten in einem Aushandlungsprozess, bei dem das Ministerium partielle Zugeständnisse machte. Der Vorstellung von »Herrschaft als sozialer Praxis« folgend zeigt der Beitrag, wie Psycholog:innen die Herrschaftsbeziehung »von unten« mitformten, sodass es dem Ministerium nicht gelang, ihre »freischaffende Arbeitsweise« restlos zu beseitigen.
Publisher
Psychosozial-Verlag GmbH and Co. KG
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