Abstract
In einer der fundierenden Erzählungen der Hebräischen Bibel und überhaupt der monotheistischen Tradition, in der Geschichte von ›Mose am brennenden Dornbusch‹ (Ex 3,1–15), wird ein eminenter Moment der Überraschung thematisiert. Es kommt zu einer besonderen Begegnung zwischen dem zum Propheten beauftragten Mose und Gott, der sich erstmalig und unter einmaligen Umständen als ein daund mit-seiender Dialogpartner des Menschen offenbart. Eine eingehende Exegese und insbesondere eine Analyse der Namensoffenbarung (»Ich werde dasein, als der ich dasein werde.«) soll zeigen, dass dieser Gott sich fundamental von den polytheistischen Göttern unterscheidet und der menschlichen Verfügbarkeit entzogen bleibt. Diese Vorstellung wird in einem zweiten Schritt in Verbindung mit der Geschichte Freuds bzw. der Psychoanalyse sowie der Unverfügbarkeit des Unbewussten gesetzt. Freud war, damit die Psychoanalyse ins »gelobte Land der Psychiatrie« einziehe und der Verdacht zerstreut werden könne, sie sei eine »jüdische Wissenschaft«, in der Begegnung mit Jung bereit, essentials aufzugeben. Erst allmählich konnte er sich in der Wiederentdeckung der Figur des Mose, seiner jüdischen Herkunft und der Verwurzelung der Psychoanalyse in der jüdischen Tradition vergewissern. Ausgehend von der Dornbusch-Perikope könnte man nun sagen, dass die Psychoanalytikerin/der Psychoanalytiker nicht nur die Funktion des »Gesetzgebers« (Loch, 1974) einnehmen und für die Etablierung und Aufrechterhaltung von Rahmenbedingungen und Regeln einstehen muss, denen sie/er sich selbst auch unterstellt. Darüber hinaus muss sie bzw. er dafür Sorge tragen, dass das Unbewusste und das Un-Wissbare in seiner Unverfügbarkeit nicht durch Manipulationen und durch ›Wissen‹ eingeschränkt oder gar verunmöglicht wird. Die Psychoanalytikerin bzw. der Psychoanalytiker ist gleichsam beauftragt, eine Position einzunehmen, die eine Erfahrung möglich macht, die nicht vorhersehbar ist und sich nur in einem Moment der Überraschung offenbart.
Publisher
Psychosozial-Verlag GmbH and Co. KG
Reference37 articles.
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