Abstract
Infolge politischen wie medizinpraktischen Regulierungsbedarfs wurden 2020 zwei große evidenzbasierte Leitlinien veröffentlicht, die zu einer Standardisierung der Geburtshilfe in Deutschland beitragen sollen. Basierend auf Material einer umfangreichen ethnographischen Regimeanalyse der Regulierung von Geburt, beleuchte ich diese Wissensprojekte und arbeite fünf sie kennzeichnende wissenspolitische Dimensionen heraus: Neben der Intention einer Standardisierung der geburtshilflichen Praxis ist dies auch der Anspruch einer Evidenzbasierung der politischen Regulierung von Geburt. Trotz scheinbarer Widersprüche boten die Leitlinien weiterhin die Möglichkeit, auch selbstbestimmungsrelevante Forderungen in Rationalitäten von Evidenz zu codieren – eine Errungenschaft frauen*gesundheitspolitischer Akteure. Aus der Perspektive der Reproduktiven Gerechtigkeit gilt es hingegen, die Leitlinien kritisch zu beleuchten. Angesichts dieser multiplen Agenden erweisen sich Leitlinien als vielfältige, ambivalente, ineinander verwobene, konfligierende wie kokonstitutierende, durch Rückkopplungseffekte gekennzeichnete politische Projekte.
Publisher
Verlag Barbara Budrich GmbH
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