Abstract
ZusammenfassungFormulare sind Grenzobjekte. Eine besondere Bedeutung kommt in ihrem Fall der Unterscheidung von (vorgeschriebenem) Text, den auszufüllenden Lücken und ihren Rändern zu. Der lückenhafte Text weist demjenigen, der das Formular ausfüllt, einen präzise ausgemessenen Raum für seine Textergänzungen zu. Aber Formulare gestatten noch einen anderen Typ von Textergänzung, dessen Schauplatz die Ränder sind: Auf ihnen finden sich gelegentlich Inskriptionen, die in den vorgegebenen Lücken, die das Formular lässt, nicht vorgesehen sind und die sich zugleich als Kritik an den Klassifizierungszwängen dieser Textsorte lesen lassen. Vor diesem Hintergrund geht der Aufsatz den literarischen Spielräumen einer Textgattung nach, der es scheinbar allein auf bürokratische Genauigkeit ankommt: Ernst von Salomon orientiert in seinem umstrittenen Nachkriegs-Bestseller „Der Fragebogen“ (1951) seine Lebensgeschichte am Raster des sogenannten „großen Fragebogens“, mit dem das „Military Government of Germany“ das Kriegsziel der Entnazifizierung der deutschen Bevölkerung auf bürokratischem Wege erreichen wollte. Indem er sich weigert, seine Geschichte in die Kategorien der Verwaltung zu transformieren und sie stattdessen in allen anekdotischen Details ausfabuliert, benutzt von Salomon die Möglichkeiten der Literatur, um die Asymmetrie zwischen fragender Behörde und Auskunftsgebenden zu verkehren.
Publisher
Springer Berlin Heidelberg
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